Die Essensgeräusche
werden gedämpft als ich aus dem Haus trete. Ich schlüpfe in die
Kolhapuri*, der Ring schmiegt sich um meinen großen Zeh. Und ich
laufe.
Ich trete aus dem Tor und
lasse Premsagar hinter mir. Ozean der Liebe. Ich grüße den Nachbarn
auf der anderen Straßenseite. Namaskar. Wie jeden Tag. Er sitzt dort
bei seinem Motorrad. Er lächelt und nickt. Wie jeden Tag. Und ich
laufe.
Der schwarze Hund liegt
auf der schattigen Straße. Er sieht gut aus, sein Fell hat nur
wenige kahle Stellen. Drei kleine Kinder spielen einige Meter weiter.
Das Kleinste hat einen großen schwarzen Punkt auf der Stirn.
Reinheit. Schutz vor Unheil. Am Ende der Straße läutet eine Frau
die Glocke des kleinen Tempels. Die Swastik* im Inneren beunruhigen mich schon lang nicht mehr. Und ich
laufe, biege in die Hauptstraße ein.
Die Sonne brennt. Links
die englische Schule. Ein wenig wie Hogwarts, es gibt Schüler in
roten, blauen, gelben und
grünen Uniformen. Die
Jüngeren werden gerade abgeholt. Motorräder brummen, Rikshaws
hupen, Jungs schwingen sich auf ihre Markenfahrräder. Ein
Eisverkäufer nutzt den Trubel. Gegenüber der Schule
hockt ein Laden neben dem anderen. Süßigkeiten und Gebäck,
ein Schweißer, ein kleiner Elektroladen, ein Schreiner, ein
Matratzenverkäufer, ein Friseur und mehrere Tante-Emma-Läden. Und
ich laufe.
Werbungen für
Englischkurse, Unlimited Broadband Internet, Fitnessberatung („Are
you too fat or too slim – ask Sim!“) oder Windows 8 („free,
full version, cracked, 800 Rs. only!“) kleben an alten Stromkästen.
Eine Bewegung auf dem Daches steht besonders des Wohnhauses auf der rechten Seite.
Platsch! Das Wasser verteilt sich, eine Frau springt rasch zur Seite.
Es wird in wenigen Minuten getrocknet sein. Ein Obsthändler wartet
mit seinem Fahrrad am Rand. Auf dem Sattel
steht ein großer Korb. Weintrauben. Es ist Saison. Er schaut
mich erwartungsvoll an. Und ich laufe.
Es sind Fünf. Sie sitzen
auf einer Bank und einem Reifen. Ich schätze sie auf 25. Zwei halten
sich an den Händen. Vielleicht haben sie gerade einen Scherz
gemacht. Sie starren. Sie verziehen keine Miene. Mein Blick schweift
nach vorn. Während ich sie passiere, beobachte ich sie aus den
Augenwinkeln. Sie starren noch immer. Ich verziehe keine Miene. Sie
werden noch weiter starren. Und ich laufe.
Arbeiter reißen die
frisch geteerte Straße auf. Ein Rohr muss freigelegt werden. Vor
einem Monat waren sie schon einmal hier. Der kleine Klamottenladen
gibt es heute T-Shirts fuer 140 Rs.* pro Stueck. Und ich laufe.
Eine
alte Frau schleppt sich an mir vorbei. Das Leben hat sie gebeugt, so
stark wie ich es selten gesehen habe. Sie ist halb so groß wie ich.
Der rosafarbene Sari hängt tief in ihr Gesicht, die Haut sieht aus
wie Leder. Sie schaut nicht. Und ich laufe.
Kreuzung. Rechts
erstreckt sich der Gemüsemarkt. Dort ist es still. Rufen ist nicht
nötig, die Leute kommen. Geradeaus die Marathi-Schule. Ich biege
links ab und laufe.
Eine lachende Blume auf
der Mauer. Ich schaue darüber. Zwei Kinder spielen mit dem rötlichen
Staub des Schulplatzes. Ansonsten Leere. Die meisten wurden abgeholt.
Die meisten zu Fuß. Links und rechts des Eingangs stehen die
Süßigkeitenwaagen. Eine rundliche Frau sitzt auf dem Linken. Eine
rundliche Frau sitzt auf dem Rechten. Ein Kind reicht eine Rupie
hinauf. Zwei Bonbons wandern in die kleinen Finger. Auf der linken
Seite steht ein Mann. Er pisst an die Mauer. Ich laufe.
Den Gestank des
Containers riecht man schon von weitem. Organischer und anorganischer
Muell, die Hälfte drin, die Hälfte draußen. Ein halbes Dutzend
Kühe steht um ihn herum. Sie fressen. Ein Kalb versucht sich an
einer Kokosnuss. Ich schmunzele. Daneben besteigen sich zwei Hunde.
Die langen Zitzen der Hündin hängen herab. Der Rüde hat mehrere
Wunden. Und ich laufe.
Gegenüber der Müllhalde
entstanden aus Stöcken und verschiedenen Planen eine, zwei, drei
Hütten. Zwei Männer stehen nah der Feuerstelle und verbrennen einen
Abfallberg. Sie lachen. Weiter hinten schimpft die Mutter mit der
Tochter. Sie muss gerade aus der Schule gekommen sein. Ihr fettiges
Haar hängt herab. Sie alle leben vom Müll. Und ich...
… schaue mich um. War
da gerade ein weißes Bein? Ja, die Ausländerin trägt einen
Sonnenschirm und Kurze Hosen. Knielang.
Das gehört sich nicht. Mir fallen die Jungs von vorhin wieder ein.
Selbes Szenario. Und ich laufe.
Biege rechts in den
Schotterweg ein und gleich wieder links. Rosemary wäscht gerade.
„Namaskar!“ Sie blickt mich mit dem einen gesunden Auge an und
lächelt. Zumindest ein bisschen. Bis vor kurzem lebte sie auf der
Straße. Und ich laufe.
Im Schatten des einzigen
Baumes nahe der Straße unterhalten sich ein Junge und ein Mädchen.
Sie stehen hier oft, wenn sie vom College kommen. Links dösen zwei
Kühe. Die rot bemalten Hörner des Bullen glänzen in der Sonne.
Weiter vorn sitzt eine ältere Frau im Schatten neben der Straße.
Und ich laufe, biege ein letztes mal ab.
Das Office liegt vor mir.
Die Essensgeräusche schwellen an. Ich lasse mich in meinen Stuhl
sinken. Entspannt. Und ich laufe nur noch in Gedanken.
Wie fühle ich mich also
nach einem solchen Gang? Bin ich verstört? Nein, nicht nach einem
halben Jahr. Was ich vielmehr bei einem solchen Gang fühle, ist das
Leben. „Das Leben – was ist das für eine
möchtegern-philosophische Aussage?“ Aber es ist so. Du bist nie
allein, es sind so viele Menschen unterwegs und du siehst
unterschiedlichste Spielformen des menschlichen Lebens. Man sieht
Realitäten. Man versteht, dass das Leben nicht gerecht oder
ungerecht ist. Und ich für mich habe erkannt, dass es nicht nur
mehr, sondern vielschichtigere Realitäten gibt, als ich in
Deutschland hätte ahnen können. Und damit meine ich nicht nur die
Armut.
Zuletzt will ich mich
entschuldigen – ich habe schon selbst nicht mehr daran geglaubt,
dass noch ein Blogeintrag kommt. Es ist unbeschreiblich viel passiert
und in gewissem Sinne ist mir der Blog entglitten – nicht der
Wunsch zu schreiben, aber mir bewusst Zeit dafür zu nehmen. Ich habe
eindeutig das Problem, dass ich zu viele Beschäftigungsmöglichkeiten
habe. Ich hoffe, vor allem meine Familie wird mir verzeihen :)
* Anmerkungen:
Kolhapuri sind eine spezielle Art Sandale: Kolhapuri | Das Swastik ist ein seit 5000 Jahren in Indien verbreitetes Symbol für Glück - es wird besonders dem Gott Ganesha zugeordnet und findet sich deshalb auf vielen Tempeln in Pune Swastik | 1 Euro sind momentan rund 70 Rupien
* Anmerkungen:
Kolhapuri sind eine spezielle Art Sandale: Kolhapuri | Das Swastik ist ein seit 5000 Jahren in Indien verbreitetes Symbol für Glück - es wird besonders dem Gott Ganesha zugeordnet und findet sich deshalb auf vielen Tempeln in Pune Swastik | 1 Euro sind momentan rund 70 Rupien
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