Montag, 18. März 2013

Und ich laufe

Die Essensgeräusche werden gedämpft als ich aus dem Haus trete. Ich schlüpfe in die Kolhapuri*, der Ring schmiegt sich um meinen großen Zeh. Und ich laufe.  
Ich trete aus dem Tor und lasse Premsagar hinter mir. Ozean der Liebe. Ich grüße den Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Namaskar. Wie jeden Tag. Er sitzt dort bei seinem Motorrad. Er lächelt und nickt. Wie jeden Tag. Und ich laufe.

Der schwarze Hund liegt auf der schattigen Straße. Er sieht gut aus, sein Fell hat nur wenige kahle Stellen. Drei kleine Kinder spielen einige Meter weiter. Das Kleinste hat einen großen schwarzen Punkt auf der Stirn. Reinheit. Schutz vor Unheil. Am Ende der Straße läutet eine Frau die Glocke des kleinen Tempels. Die Swastik* im Inneren beunruhigen mich schon lang nicht mehr. Und ich laufe, biege in die Hauptstraße ein.
Die Sonne brennt. Links die englische Schule. Ein wenig wie Hogwarts, es gibt Schüler in roten, blauen, gelben und grünen Uniformen. Die Jüngeren werden gerade abgeholt. Motorräder brummen, Rikshaws hupen, Jungs schwingen sich auf ihre Markenfahrräder. Ein Eisverkäufer nutzt den Trubel. Gegenüber der Schule hockt ein Laden neben dem anderen. Süßigkeiten und Gebäck, ein Schweißer, ein kleiner Elektroladen, ein Schreiner, ein Matratzenverkäufer, ein Friseur und mehrere Tante-Emma-Läden. Und ich laufe.
Werbungen für Englischkurse, Unlimited Broadband Internet, Fitnessberatung („Are you too fat or too slim – ask Sim!“) oder Windows 8 („free, full version, cracked, 800 Rs. only!“) kleben an alten Stromkästen. Eine Bewegung auf dem Daches steht besonders des Wohnhauses auf der rechten Seite. Platsch! Das Wasser verteilt sich, eine Frau springt rasch zur Seite. Es wird in wenigen Minuten getrocknet sein. Ein Obsthändler wartet mit seinem Fahrrad am Rand. Auf dem Sattel steht ein großer Korb. Weintrauben. Es ist Saison. Er schaut mich erwartungsvoll an. Und ich laufe.
Es sind Fünf. Sie sitzen auf einer Bank und einem Reifen. Ich schätze sie auf 25. Zwei halten sich an den Händen. Vielleicht haben sie gerade einen Scherz gemacht. Sie starren. Sie verziehen keine Miene. Mein Blick schweift nach vorn. Während ich sie passiere, beobachte ich sie aus den Augenwinkeln. Sie starren noch immer. Ich verziehe keine Miene. Sie werden noch weiter starren. Und ich laufe.
Arbeiter reißen die frisch geteerte Straße auf. Ein Rohr muss freigelegt werden. Vor einem Monat waren sie schon einmal hier. Der kleine Klamottenladen gibt es heute T-Shirts fuer 140 Rs.* pro Stueck. Und ich laufe.
Eine alte Frau schleppt sich an mir vorbei. Das Leben hat sie gebeugt, so stark wie ich es selten gesehen habe. Sie ist halb so groß wie ich. Der rosafarbene Sari hängt tief in ihr Gesicht, die Haut sieht aus wie Leder. Sie schaut nicht. Und ich laufe.
Kreuzung. Rechts erstreckt sich der Gemüsemarkt. Dort ist es still. Rufen ist nicht nötig, die Leute kommen. Geradeaus die Marathi-Schule. Ich biege links ab und laufe.
Eine lachende Blume auf der Mauer. Ich schaue darüber. Zwei Kinder spielen mit dem rötlichen Staub des Schulplatzes. Ansonsten Leere. Die meisten wurden abgeholt. Die meisten zu Fuß. Links und rechts des Eingangs stehen die Süßigkeitenwaagen. Eine rundliche Frau sitzt auf dem Linken. Eine rundliche Frau sitzt auf dem Rechten. Ein Kind reicht eine Rupie hinauf. Zwei Bonbons wandern in die kleinen Finger. Auf der linken Seite steht ein Mann. Er pisst an die Mauer. Ich laufe.
Den Gestank des Containers riecht man schon von weitem. Organischer und anorganischer Muell, die Hälfte drin, die Hälfte draußen. Ein halbes Dutzend Kühe steht um ihn herum. Sie fressen. Ein Kalb versucht sich an einer Kokosnuss. Ich schmunzele. Daneben besteigen sich zwei Hunde. Die langen Zitzen der Hündin hängen herab. Der Rüde hat mehrere Wunden. Und ich laufe.
Gegenüber der Müllhalde entstanden aus Stöcken und verschiedenen Planen eine, zwei, drei Hütten. Zwei Männer stehen nah der Feuerstelle und verbrennen einen Abfallberg. Sie lachen. Weiter hinten schimpft die Mutter mit der Tochter. Sie muss gerade aus der Schule gekommen sein. Ihr fettiges Haar hängt herab. Sie alle leben vom Müll. Und ich...
… schaue mich um. War da gerade ein weißes Bein? Ja, die Ausländerin trägt einen Sonnenschirm und Kurze Hosen. Knielang. Das gehört sich nicht. Mir fallen die Jungs von vorhin wieder ein. Selbes Szenario. Und ich laufe.
Biege rechts in den Schotterweg ein und gleich wieder links. Rosemary wäscht gerade. „Namaskar!“ Sie blickt mich mit dem einen gesunden Auge an und lächelt. Zumindest ein bisschen. Bis vor kurzem lebte sie auf der Straße. Und ich laufe.
Im Schatten des einzigen Baumes nahe der Straße unterhalten sich ein Junge und ein Mädchen. Sie stehen hier oft, wenn sie vom College kommen. Links dösen zwei Kühe. Die rot bemalten Hörner des Bullen glänzen in der Sonne. Weiter vorn sitzt eine ältere Frau im Schatten neben der Straße. Und ich laufe, biege ein letztes mal ab.
Das Office liegt vor mir. Die Essensgeräusche schwellen an. Ich lasse mich in meinen Stuhl sinken. Entspannt. Und ich laufe nur noch in Gedanken.

Wie fühle ich mich also nach einem solchen Gang? Bin ich verstört? Nein, nicht nach einem halben Jahr. Was ich vielmehr bei einem solchen Gang fühle, ist das Leben. „Das Leben – was ist das für eine möchtegern-philosophische Aussage?“ Aber es ist so. Du bist nie allein, es sind so viele Menschen unterwegs und du siehst unterschiedlichste Spielformen des menschlichen Lebens. Man sieht Realitäten. Man versteht, dass das Leben nicht gerecht oder ungerecht ist. Und ich für mich habe erkannt, dass es nicht nur mehr, sondern vielschichtigere Realitäten gibt, als ich in Deutschland hätte ahnen können. Und damit meine ich nicht nur die Armut.

Zuletzt will ich mich entschuldigen – ich habe schon selbst nicht mehr daran geglaubt, dass noch ein Blogeintrag kommt. Es ist unbeschreiblich viel passiert und in gewissem Sinne ist mir der Blog entglitten – nicht der Wunsch zu schreiben, aber mir bewusst Zeit dafür zu nehmen. Ich habe eindeutig das Problem, dass ich zu viele Beschäftigungsmöglichkeiten habe. Ich hoffe, vor allem meine Familie wird mir verzeihen :)

* Anmerkungen:
Kolhapuri sind eine spezielle Art Sandale: Kolhapuri | Das Swastik ist ein seit 5000 Jahren in Indien verbreitetes Symbol für Glück - es wird besonders dem Gott Ganesha zugeordnet und findet sich deshalb auf vielen Tempeln in Pune Swastik | 1  Euro sind momentan rund 70 Rupien

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen